Partyreste
Vor nicht allzu langer Zeit, beim Besuch eines Familienfestes im engeren Kreise, geschah es, dass das Gespräch sich hin zum nostalgischen wendete. Nostalgie ist eine Leidenschaft, fehlende Perspektive und reich verteilte reaktionäre Züge machen Gegenwart und Zukunft zum Ungewissen dem man sich nur vorsichtig nähert, die Vergangenheit dagegen hat ihre Maske des unbekannten schon verloren, selektive Wahrnehmung hat auch nur ihre besseren Ereignisse im Langzeitgedächtnis aufbewahrt und damit wird sie zum gutherzigen Freund, dem man sich mit einem Lächeln nähert. So tauchte das Gespräch also ab in die notorischen Gefilde humanistischer Vergangenheitsbewältigung durch Repetierung des ewiggleichen: Ziel der Odysee war diesmal Gerd, Bruder meines Großvaters, als Knecht auf dem Bauernhof großgeworden und, Zwangs fehlender Maid, auch altgeworden bis er vor nicht all langer Zeit starb.
Gerd war ein Genußraucher, d.h. er rauchte selten eine Zigarre, aber wenn so genoß er jeden Zug. Jemand erinnerte sich wie Gerd selbst den letzten Stummel einer Zigarre auf ein Streichholz propfte um auch diesen Rest nicht zu vergeuden, und der minimale Rest der dann letztlich noch übrigblieb wurde als Pfeifentabak verwendet - um die Verschwendung möglichst gering zu halten. Das war aus damaliger Sicht natürlich eine nachvollziehbare Verhaltensweise:
Das Nachkriegsdeutschland war zerstört, heruntergewirtschaftet, im Elend. Wenige hätten vermutlich damals geahnt dass die Zukunft - sicherlich vor allem dank des Marshall-Plans - dem Land einen solchen wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg vergönnen würde, denn die Vorraussetzungen waren alles andere als Vorteilhaft; wenig Nahrung, wenig Geld, wenig Arbeit, wenig Mut, und genau daher genoß Gerd auch seinen Zigarrenstummel: Er wußte nicht wann er die nächste Zigarre genießen würde können.
Zu diesem Zeitpunkt schaute ich mich im Raum um. Wir saßen mit etwa 10 Personen um einen reichhaltig gefüllten Tisch. Da sammelten sich mehrere halbvolle Chipstüten, ein erweitertes Repertoire an unterschiedlich leeren Bierflaschen, verschiedenste Alkoholdrinks und ein Sammelsorium an benutzten Gläsern (genauer gesagt: Die Anzahl der benutzten Gläser für n Teilnehmer ist immer n+n/log(n)). Beim überblicken dieses Eindrucks einer gesunden Party kam mir das gegenteilige Verhalten Gerd's mit seiner Zigarre in den Kopf:
Die Masse der übriggebliebenen Nahrungsreste einer Veranstaltung ist ein direkter Indikator für das Verschwendungsverhalten/Wohlbefinden einer Gruppe/Gesellschaft.
Dieser Kausale Zusammenhang sollte relativ klar sein: Ein hungriger Tourist wird am Fuße des Nanga Parbat gierig die gerade gekaufte Pizza verspeisen und vermutlich das kleinste bisschen Rand mit-essen, während selbiger Tourist nach einem gedehnten Pasta-Mahl eine Pizza verschmähen würde: Er fühlt sich ja schon wohl. Eigentlich würde er gar keine bestellen, er ist ja schon satt, aber würde er, noch im Hunger, 4 Stück bestellen so könnten wir Schlussfolgern dass er unter Verschwendungssucht leidet (oder ein gestörtes Realitätsempfinden besitzt).
Wenn das Verschwendungsverhalten einer Gesellschaft uns Ausschluss über ihr Wohlbefinden gibt, welche weiteren Werte können wir dann hier vielleicht noch ablesen? Könnte es sein dass die Partyreste für uns ein Indikator der Motivation/Produktivität einer Gruppe sind? Gerd's Generation war unglaublich motiviert, nur so konnten Sie das Wirtschaftswunder auf die Beine stellen und den Staat errichten dessen Nutznießer wir noch heute sind. Um diese Frage zu beantworten müssen wir schauen welche Aussagen wir aus den bisherigen Erkenntnissen ableiten können:
Wohlbefinden impliziert einen Zustand der Gleichgültigkeit da keine weitere Mühe aufgebracht werden muss um Wohlbefinden zu erreichen, man hat es ja schon erreicht. Das erreichen des Zieles negiert selbiges auch gleich, und führt uns in einen Zustand der Orientierrungslosigkeit.
Verschwendungsverhalten ist Anzeichen eines Überflußes, wobei dieser nicht materieller Natur sein muss sondern von uns auf die Materielle Welt projeziert werden kann um innere Überflüsse auszugleichen: ein Zuviel an Langeweile führt zu einem Überfluß an Konsumverhalten - auch wenn der Geldbeutel dem nicht nachkommen kann.
Also sind Partyreste ein Hinweis darauf dass die verantwortliche Gruppe an Überfluß leidet, Gleichgültig ist, Wohlbefinden verspürt und orientierungslos ist.
Ein wesentlicher Faktor für erfolgsorientierte Eigenmotivation ist das vorhandensein realistischer Ziele. Erfolgreiche Menschen planen ihr Leben in einer vielzahl von Zielen, vom kleinen Ziel - morgens rechtzeitig zur Arbeit erscheinen -, über das Jahresziel - Befördert werden -, bis zum Lebensziel - ein Haus an der amerikanischen Westküste, so gibt es immer einen neuen Schritt für den man wieder Motivation benötigt. Orientierungslosigkeit ist hier wie Gift für die Motivation; das Fehlen von Zielen sorgt dafür, dass man sich nicht motivieren kann, und die Gleichgültigkeit sorgt dafür, dass man sich keine neuen Ziele setzt.
Produktivität wiederum ist ein Zustand der aus dem Begehren geweckt wird. Der Bauer ist produktiv da er eine große Ernte begehrt, der Designer ist Produktiv da er einen großen Auftrag begehrt, und der Büroangestellte ist produktiv da er Urlaub begehrt. Befindet man aber nun, wenn auch nur mental/psychisch, in einem Gefühl des Überflusses schwebt, so kann Begehren nicht in gleichem Maße aufgebracht werden, und damit sinkt die Produktivität.
Unter anbetracht der obig dargestellten Zusammenhänge könnte man also nun eine kausale Interaktion von Partyresten und Motivation/Produktivität vermuten. Dies würde bedeuten dass man Anhand des Pro/Kopf generierten Biomülls ermitteln könnte wie motiviert oder produktiv eine Volkswirtschaft ist. Auch innerhalb von mittelgroßen Firmen mit Kantine oder auf Lokal/Kommunal-Ebene ließe sich so die Motivation der beteiligten Personen messen. Natürlich muss man, um realistische Werte zu haben, die Zahlen in Verbindung mit dem Pro/Kopf einkommen und dem sog. volkswirtschaftlichen Warenkorb/Index sehen, doch noch ist diese Behauptung wertlos, denn ohne statistische oder experimentelle Werte/Rückhalt läßt sich diese Behauptung lediglich postulieren. Interessant wäre zu schauen wie sich die Relation von verursachtem Biomüll zu Bruttosozialprodukt einer Kommune verhält oder wie die Pro/Kopf Müllproduktion, im Rahmen des verfügbaren Lebensmittelangebots, 1940 und 1990 aussah. Auch viele weitere Statistiken könnten hier von interesse sein.
Dennoch läßt sich festhalten daß, wenn man das nächste mal, nach einer wirklich wilden Hausparty, beim aufräumen feststellt dass man von den Resten 30 Tage überleben könnte, man sich lächelnde Gedanken über fehldende Motivation und Produktivität der Teilnehmer machen kann - um letztlich vermutlich komplett falsch zu liegen.